Immer mehr Apotheker abseits großer Städte müssen mangels Nachfolgern schließen. Demografie, mangelnde Attraktivität und Studienplatzmangel
Lehesten/Ziegenrück/Erfurt.Zum 150-Jährigen der Glückauf-Apotheke hat sich Ingeborg Rimpl eine Broschüre gegönnt, 50 Hochglanz-Seiten voller Erinnerungen. 1965 hatte Rimpl in Lehesten ihre erste Stelle angetreten, noch nicht ahnend, dass sie auf immer im Schieferstädtchen bleiben würde. Und womöglich die vorerst letzte Apothekerin im Ort sein wird.
Eigentlich hatte alles schon 1955 begonnen, Rimpl war 14, die Hauptschule vorbei, zwei Lehr-Bewerbungen hatte sie verschickt, Lehrerin wollte sie werden oder Laborantin. Jenapharm antwortete schneller als die Pauker-Lehranstalt in Crossen - also wurde Rimpl Facharbeiterin für pharmazeutische Chemie. Zog anschließend das Abitur durch, studierte in Jena, heiratete zwischen den Staatsexamen, kam als approbierte Apothekerin nach Lehesten und sollte zunächst als Schwangerenvertretung aushelfen. "Aus dem einen wurden dann 49 Jahre", resümiert Rimpl und blättert durch die Seiten der Festschrift: "Die Apotheke, das war mein Leben."
Eine Bilanz, die nach Abschluss klingt, nach Rente und Rückzug aufs Altenteil, nach gelegentlichem Besuch beim Nachfolger, um zu schauen, wie der Übergang gelingt. Doch für Ingeborg Rimpl gibt es auch mit 73 Jahren noch keinen Ruhestand. Denn selbst nach acht Jahren der Suche findet sich niemand, der die Apotheke im ehemaligen Landambulatorium übernimmt.
Dabei wirkt die Herberge für Tabletten, Tinkturen und wirkmächtige Tees wie aus dem Bilderbuch fürs ländliche Refugium des volksnahen Pillendrehers: Zentral gelegen und doch fast in Rennsteig-Sichtweite, zwei Arztpraxen im gleichen Hause, unterm Dach das Zimmer für den Nachtdienst inklusive Schlafcouch. 1992 hatten Ingeborg und ihr Mann Willy Rimpl, damals noch Bürgermeister der Kleinstadt im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, den zuvor von der Treuhand gekauften Teil des Ambulatoriums modernisiert, erweitert und mit einer gänzlich neuen Einrichtung in Offizin und Rezeptur versehen, um sodann vom alten und viel zu engen Standort in der Breiten Straße umzuziehen.
Alle Ersparnisse, wie man sie überhaupt haben kann nach Jahrzehnten als Angestellte im DDR-Gesundheitswesen, mit drei Kindern und einem betagten Haus, gingen dafür hin, und Kredit dazu im kräftig sechsstelligen Bereich. "Das war schon ein kühner Schritt", sagt Willy Rimpl, aber es war eben noch eine Zeit der auslaufenden Euphorie der Grenzöffnung, der Hoffnung auf Lehestens Strahlkraft auch für die fränkischen Nachbarorte und auf neuen Aufschwung durch Tourismus. Zudem die Pflicht, in der sie sich beide sahen, sie für die Versorgung von Patienten, er für die Stadt. Denn eine Apotheke, das war damals noch und abseits der großen Städte sowieso, nicht nur eine Arznei-Ausgabestelle. Sondern Symbol eines prosperierenden Gemeinwesens.
Gegründet, besser gesagt, angeordnet wurde die erste Apotheke 1864 vom Sachsen-Meiningischen Innenministerium wegen des aufsteigenden Schieferbergbaus in Lehesten - daher der Name "Glückauf". Mit ihr Anfang der 1990er Jahre noch einmal durchzustarten, war angesichts des absehbaren Endes für die Schieferproduktion eine gebaute Hoffnung für Lehestens Zukunft und wohl auch so etwas wie Trotz.
Seither allerdings hat die Stadt rund 30 Prozent ihrer Einwohner verloren, den Orten umher geht es nicht viel besser. "Das Einzugsgebiet ist damit einfach zu klein", beschreibt Ingeborg Rimpl die Kalamität. Zusammen mit den geschrumpften Margen nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz von 2011 bei gleichzeitig höheren Aufwendungen für Personal oder Energie heißt das: Es bleibt nicht mehr viel am Monatsende, kaum mehr als ein eher schmales Angestelltengehalt. "Wir stecken halt unsere Ansprüche zurück", sagt Rimpl, "aber welcher junge Mensch, nach fünf Jahren Studium und drei Staatsexamen, will denn mit solchen Perspektiven sein Berufsleben beginnen?"
Knapp die Hälfte der Jung-Apotheker suche ohnehin gleich sein Heil in der Pharmaindustrie, der Rest wolle überwiegend urbanes Leben, mit solidem Einkommen, vielfältigen Kultur- und Freizeitangeboten und Anschluss an die große Welt. "Kann man doch niemandem verdenken", findet die noch immer agile "Glückauf"-Chefin.
Ziegenrück hat keine Apotheke mehr
Wenige Kilometer weiter gibt es das schon: eine Kleinstadt ohne Apotheke. In Ziegenrück (Saale-Orla-Kreis) stehen die Räume der vormaligen Adler-Apotheke seit Dezember leer, stattdessen prangt neben der Außentür der Kasten einer Rezeptsammelstelle.
Dietmar Reichenbächer hat nach zwölf Jahren im einstigen Urlauberzentrum an der Saale aufgegeben. "Einfach zu dünn" sei das Rezeptaufkommen zuletzt gewesen, sagt er, denn auch Ziegenrück schrumpft und altert. Hinzu kam die Anforderung der neuen Apothekenbetriebsordnung, wonach ausreichend pharmazeutisch ausgebildetes Personal für einen durchgängigen Betrieb vorhanden sein muss - was für ihn unterm Strich hieß, alle pharmazeutischen Tätigkeiten allein auszuüben. Auch das habe er noch hingenommen, so Reichenbächer, doch dann folgte auch ein neues Qualitätsmanagement. "Ich muss jeden Handgriff dokumentieren, sonst mache ich mich einer Ordnungswidrigkeit schuldig", erklärt Reichenbächer. Schlicht zu viel Bürokratie, um einen Ein-Mann-Betrieb wirtschaftlich am Laufen zu lassen. Seit Januar hat Reichenbächer endlich wieder geregelte Arbeitszeiten - als angestellter Apotheker in Pößneck.
Die Branche kränkelt, vor allem abseits der Städte. 28 Apotheken in Thüringen haben in den letzten drei Jahren schließen müssen - und es könnten demnächst noch sehr viel mehr werden, sagen Landesapothekerkammer (LAKT), Apothekerverband und die FDP.
Denn zum Ausdünnen der Kleinststädte und Dörfer, zur Erosion des Marktes durch Versandapotheken und zum Verlust ländlicher Arztpraxen als Anker des Geschäfts gesellen sich zwei weitere Faktoren: Demografie und Politik. "Das Problem ist, dass die Generation der Babyboomer, also die geburtenstarken Jahrgänge, nach 2020 in Rente geht. Auch die noch in der DDR ausgebildeten Pharmazieingenieure scheiden in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren aus dem Erwerbsleben aus und müssen nun durch Apotheker ersetzt werden", erläutert Marian Koppe, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion aus Königsee.
Schon jetzt arbeitet laut LAKT-Geschäftsführer Danny Neidel in der Hälfte aller Thüringer Apotheken - etwa 280 - nur ein einziger Apotheker. Fällt er über kürzere oder längere Zeit aus, droht die Schließung. Denn der Nachwuchs an Pipette und Mörser kann schon jetzt nicht die Alters-Abgänge ersetzen, mit der Folge, dass jeder Nachwuchsapotheker bereits unter zehn möglichen Stellen wählen kann.
Alters-Abgänge können nicht ersetzt werden
Ein Grund: An der Universität Leipzig wurden die entsprechenden Studienplätze bereits 2013 auf nur noch 36 reduziert, bis zum Jahr 2020 soll der Studiengang gänzlich entfallen. Gibt es dafür keine Kompensation, könnten Hochrechnungen der LAKT zufolge im Jahr 2025 rund 400 Apothekerstellen in Thüringen unbesetzt sein. "Und es liegt auf der Hand, dass es wegen des schwierigen wirtschaftlichen Umfelds den ländlichen Raum zuerst und am stärksten trifft", prognostiziert Koppe. Nicht zuletzt, weil öffentliche Apotheken sowie die Forschung große Teile des Nachwuchses an sich ziehen. Um zumindest das Ärgste abzuwenden, müsste aus seiner Sicht der Studiengang am Institut für Pharmazie Universität Jena umgehend von jetzt 80 auf etwa 130 Plätze ausgebaut werden.
Mitte Januar hatte Koppe für die FDP im Landtag einen Antrag eingebracht, die Landesregierung möge die Situation in der Branche prüfen und mögliche Abhilfe, etwa per Erweiterung der Studienplätze in Jena, darstellen.
Regierungskoalition und Bündnisgrüne lehnten den Antrag ab, ohne auch nur auf die Ursachen des Mangels einzugehen. "Solche Arroganz und Kaltschnäuzigkeit sind mir noch nie begegnet", zürnt der FDP-Mann noch immer: "Die halten sich einfach die Augen zu, weil sie meinen: Apotheker jammern auf hohem Niveau. Und 2020 ist noch weit hin."
Vielleicht. Möglicherweise muss sich die Branche auch vorhalten lassen, in der Vergangenheit bei geringeren Anlässen zu laut gebarmt zu haben, weil es an ihre Umsätze ging. Vielleicht liegt es daran, dass die Apotheker mit ihren Rezeptsammelstellen genau das tun, was sie über Jahre verdammten: Arzneien den Patienten zusenden ohne die vermeintlich unverzichtbare Beratung durch einen Fachmann mit drei Staatsexamen. Das Grummeln der Betroffenen ist leise, man muss etwa in Ziegenrück schon nachfragen, bevor man erfährt, dass viele das Rezept, statt es in den Kasten zu werfen, lieber Bekannten mitgeben zur "richtigen" Apotheke. Und noch sagt Ingeborg Rimpl in Lehesten, dass es schon irgendwie weitergehen werde, auch wenn nicht viel bleibt nach Personalkosten und Stromrechnung, für Arbeitstage "von halb acht bis halb acht", wie die Chefin in mildem Sarkasmus beschreibt. "Glück auf" ist schließlich kein Abschiedsgruß.
Hintergrund zum Apothekensterben auf dem Land:
• In Thüringen gibt es noch 563 Apotheken, 22 mehr als im Jahr 2000.
• Der Höhepunkt wurde im Jahr 2010 mit 583 Apotheken erreicht.
• Von den heutigen Unternehmen sind 354 Einzelapotheken und 89 Hauptapotheken mit 120 Filialen.
• Im Jahr 2011 wurden fünf Apotheken geschlossen, 2012 waren es neun, darunter in Saalfeld und Triptis.
• Im vorigen Jahr schlossen 14 Unternehmen, so etwa in Ziegenrück, Münchenbernsdorf und Gera.
• Rezeptsammelstellen existieren bislang in Ziegenrück, Körner und Großfahner.
• Von den 1222 Thüringer Apothekern sind 212 bereits 60 Jahre alt oder älter. Quelle: LAKT
Jens Voigt