23.05.2013 · Der Thüringer Landtag und das Bundesinnenministerium wollen klären, ob und wie Patienten in klinischen Studien in der DDR aufgeklärt wurden - und ob sie einverstanden waren.

Von Susanne Kusicke


Die Aufarbeitung der Kontroverse um pharmazeutische Testreihen, die westdeutsche Arzneimittelhersteller in der ehemaligen DDR vornehmen ließen, hat begonnen. Am Freitag wollen die Fraktionen von SPD, CDU und FDP im Thüringer Landtag einen gemeinsamen Antrag an die Landesregierung einbringen, die Aufklärung dieses jüngsten Kapitels in der deutsch-deutschen Geschichte zu unterstützen. Klinische Studien zur Medikamentenzulassung sollen in den achtziger Jahren zur Devisenbeschaffung in zahlreichen ostdeutschen Kliniken durchgeführt worden sein; ob und wie die Patienten über ihre Teilnahme an diesen Studien informiert und ob sie damit einverstanden waren, ist die zentrale Frage, die nun geklärt werden soll.

Nach dem Willen der thüringischen Landtagsfraktionen soll in den Kliniken des Landes geprüft werden, ob noch Unterlagen über die Jahrzehnte zurückliegenden Tests vorhanden sind; in Arbeitsgruppen soll nach dem Vorbild der Universität Jena über die Beteiligung an diesen Testreihen geforscht werden; in die Aufklärung sollen auch die westdeutschen Pharmafirmen mit einbezogen werden.

Große Einigkeit, großer Aufklärungsbedarf

"Auch wenn es zum Teil anders berichtet wurde, sind es bisher nur Vermutungen, welche Kliniken, welches medizinische Personal und wie viele Patienten mit welchen Auswirkungen daran beteiligt waren. Deshalb ist es so wichtig, dass die Länder ihren Beitrag zur Aufklärung leisten", sagte der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Thüringer Landtag, Marian Koppe, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die FDP hatte den Antrag formuliert, dem sich SPD und CDU anschlossen; die Grünen und die Linksfraktionen wollen ihm ebenfalls zustimmen. Die Einigkeit ist also groß; auch in der Landesregierung rennen die Abgeordneten offene Türen ein. In einer aktuellen Stunde sicherte die Thüringer Sozialministerin Heike Taubert (SPD) schon am Donnerstag alle erdenkliche Unterstützung zu.

Auch das Bundesinnenministerium will die Vorwürfe aufklären. Dazu unterstützt der Beauftragte für den Aufbau Ost, Christoph Bergner (CDU), ein Forschungsvorhaben des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universitätsklinik Charité in Berlin. An der Charité soll ein großer Teil der fraglichen Studien ausgeführt worden sein. Nach Informationen dieser Zeitung war dort besonders die Psychiatrische Klinik betroffen; dort soll beispielsweise die Firma Schering neuro- und psychotrope Substanzen testen lassen haben. Teile der Bezahlung hätten dann den jeweiligen Forschungsgruppen zur Verfügung gestanden.

Bergner: Brauchen fundierte Aufarbeitung

An der Finanzierung der Forschungsarbeit beteiligen sich neben dem Bundesinnenministerium die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie voraussichtlich auch der Verband forschender Arzneimittelhersteller. Bergner rechnet mit einem Zeitrahmen von zweieinhalb Jahren. "Wir brauchen eine fundierte, wissenschaftliche und zeithistorische Aufarbeitung der Vorgänge, nicht zuletzt, weil zum Teil die Tendenz besteht, die Lage noch problematischer darzustellen, als sie ohnehin schon ist", sagte er der F.A.Z.

Auch der Leiter des medizinhistorischen Instituts an der Charité, Volker Hess, der die Medikamententests nun untersuchen wird, sieht nicht nur medizinethische Aspekte berührt: "Es bleibt die Frage der politischen Verantwortung, wenn ein Staat seine Bürger ,kapitalisiert‘", sagte er der F.A.Z. "Zweitens waren diese Versuche natürlich in das System des Ministeriums für Staatssicherheit eingebunden. Der Staat unterminierte damit die Freiheit der Forschung und die Vertraulichkeit im Arzt-Patienten-Verhältnis. Drittens ist zu fragen, was geschah, wenn es zu unerwünschten Nebenwirkungen kam, was bei jeder medikamentösen Behandlung möglich ist. Ich vermute, dass es hier am ehesten zu Grenzüberschreitungen kam."

Schreddern vorsichtshalber eingestellt

Er zieht - wie übrigens auch die Grünen-Fraktion im Thüringer Landtag - eine Linie bis in die Gegenwart: "Momentan tobt die Debatte darüber, ob man klinische Studien in Drittstaaten außerhalb Europas, die vielfach vor Ort von Auftragsunternehmen durchgeführt werden, registrieren lassen muss." Die Grünen in Thüringen wollen beispielsweise Pharmaunternehmen dazu verpflichten, alle Arzneimittelstudien registrieren zu lassen und deren Resultate zu veröffentlichen - auch die der abgebrochenen Studien.

Und auch über die Dauer der Archivierung wird gestritten: Die momentan zur Verfügung stehen Unterlagen in ostdeutschen Kliniken reichen bis 1983 zurück, weil dafür bisher eine Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren gilt. Im aktuellen Entwurf der EU-Kommission für eine Verordnung zu klinischen Studien sind nach Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller nur fünf Jahre Archivierungszeit vorgesehen. Am Uniklinikum Jena wurde wegen der aktuellen Diskussion das Schreddern verfallener Unterlagen mittlerweile eingestellt, um nicht noch mehr Informationen zu verlieren.

Quelle: F.A.Z.

24.05.2013 F.A.Z.