Tausende Thüringer Eltern sind ohne sachlichen Grund an die Jugendämter gemeldet worden, weil sie ihre Kinder angeblich nicht zur Früherkennungsuntersuchung (U-Untersuchung) gebracht haben. Etwa 40 Prozent dieser Meldungen stellen sich im Nachhinein als falsch heraus.
Erfurt. "Das ist eine Stigmatisierung tausender Eltern, die nichts falsch machen und trotzdem gemeldet werden", empört sich die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, Anja Siegesmund . Ihre Kleine Anfrage brachte die Zahlen jetzt an den Tag. Im vergangenen Jahr wurden 4536 Eltern den Jugendämtern gemeldet, tatsächlich brachten aber nur 2942 Eltern ihre Kinder nicht zur Untersuchung.
Erschwerend kommt für die grüne Politikerin hinzu, dass die Landesregierung offenbar keine Ahnung davon hat, wie die Jugendämter mit den Meldungen, also auch den Fehlmeldungen, bei der Bewertung einer möglichen Kindeswohlgefährdung umgehen.
Stigmatisierung der Eltern
Für Siegesmund ist es auch bezeichnend, dass das Sozialministerium trotz nahenden Auslaufens des Gesetzes und trotz einer Vielzahl von Beschwerden von Eltern bisher keine Erfolgskontrolle vorgenommen hat. Unterdessen häufen sich die Beschwerden der Eltern über das Gesetz. Seit Errichtung des Vorsorgezentrums sind von November 2009 bis März 2013 etwa 80 schriftliche Beschwerden beim Landesamt für Verbraucherschutz eingegangen. Auch am Servicetelefon äußerten viele Betroffene ihren Unmut über die gesetzlichen Regelungen.
In einer Antwort auf eine Anfrage des FDP-Sozialexperten Marian Koppe werden diese Beschwerden der Eltern im Einzelnen aufgelistet. Es geht beispielsweise um fehlerhafte Adress- und Meldedaten, um fehlende, verspätete oder falsche Zustellung der Einladungs- und Erinnerungsschreiben durch den Zustelldienst. Kritisiert werden auch festgesetzte Termine im Einladungs- und Erinnerungsschreiben, die nicht einzuhalten sind, da viele Ärzte die Untersuchungen erst am Ende des Regelintervalls ansetzen.
Angeprangert wird aber auch der Versand von Erinnerungsschreiben trotz bereits erfolgter Untersuchung oder auch der Versand von Schreiben während eines Zeitraums, in dem sich Eltern und Kinder im Ausland aufgehalten haben. Ein weiteres Sorgenkind scheinen Datenschutzprobleme zu sein, beispielsweise die Herausgabe von Adressen der Meldebehörde an das Vorsorgezentrum. "Die Liste der Kritikpunkte ist lang und umfassend", sagt Marian Koppe .
Altenburger Land mit höchster Teilnehmerquote
Grüne und FDP gemeinsam bezweifeln nach den Antworten auf ihre detaillierten Fragen zum Früherkennungssystem in Thüringen die Effektivität der jetzigen Regelungen. "Die Teilnahmezahlen sind mit knapp 96 Prozent seit Inkrafttreten zwar konstant hoch, was aber weniger am Gesetz und dem Meldesystem als vielmehr an der Fürsorge der Thüringer Eltern liegt", so Koppe. Die Landesregierung selbst könne nicht sagen, wie viele Untersuchungen tatsächlich auf Grund des komplizierten Meldesystems vorgenommen worden seien. "Diejenigen, bei denen tatsächlich das Kindeswohl gefährdet sein könnte, werden wohl kaum mit diesem sanktionslosen Instrument ihre Kinder den Ärzten vorstellen."
Auch für die grüne Fraktionschefin Anja Siegesmund ist nicht nachvollziehbar, dass die Landesregierung den Erfolg des Gesetzes allein an den Teilnehmerraten bemisst. Danach liegen die durchschnittlichen Teilnahmequoten in den Landkreisen zwischen 94 und 98 Prozent mit leicht steigendem Trend. Die höchste Quote hatte im vergangenen Jahr das Altenburger Land mit 99,04 Prozent, die niedrigste die Stadt Gera mit 97,26 Prozent.
Siegesmund möchte gerne untersucht wissen, ob nicht andere Maßnahmen wie die Förderung von Familienhebammen einen effizienteren Kinderschutz bewirken könnten. "Das interessiert die Landesregierung bisher nicht und das will sie offenbar auch nicht untersuchen", stellt Siegesmund fest.
Zur Sache: Guter Impfschutz für die Kinder
Die Kinder in Thüringen sind beim Schuleintritt besser gegen die klassischen Kinderkrankheiten geimpft als die Gleichaltrigen im gesamten Bundesgebiet. Die Techniker-Krankenkasse (TK) bezieht sich dabei auf aktuelle Daten des Robert-Koch-Instituts. Die absoluten Spitzenplätze der Vorjahre bei den Impfquoten in den Ländern musste der Freistaat allerdings abgeben.
Beim vollständigen Impfschutz gegen Masern, Mumps und Röteln liegt Thüringen mit 95 Prozent nach Mecklenburg-Vorpommern nun bundesweit auf Rang zwei. Bei Tetanus und Diphtherie sowie bei Polio reicht es mit 96 bis 97 Prozent noch für die Plätze fünf und sechs. Neben den traditionell impfstarken Ostländern musste Thüringen hier erstmals auch Rheinland-Pfalz den Vortritt lassen.
"Bei den noch drei bis fünf Prozent nichtgeimpften Kindern kommen wir im Freistaat in den letzten Jahren im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht mehr richtig vorwärts", sagt Guido Dressel, Leiter der TK-Landesvertretung. Er ruft zu Aufklärung und Impfberatung auf.
"Dies gilt gerade auch für die erst in den letzten Jahren in die Empfehlungen aufgenommenen Impfungen, bei denen Thüringen weiterhin unterdurchschnittliche Impfquoten aufweist." So haben etwa nur 47,3 Prozent der Schulanfänger einen vollständigen Impfschutz gegen Windpocken, während dies zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern schon 81 Prozent oder in Sachsen-Anhalt 73 Prozent sind.