Der demografische Wandel und seine vielschichtigen Folgen auf unsere Gesellschaft ist allgegenwärtig, man ist beinahe versucht zu sagen: "en vogue". Insbesondere das Gesundheitssystem bleibt von den Veränderungen in der Alters- und Morbiditätsstruktur nicht unberührt.
Ein höherer Anteil älterer Menschen geht nicht nur mit erhöhten Fallzahlen, sondern auch mit veränderten Krankheitsbildern und Patientenbedürfnissen einher. Doch unser Gesundheitssystem ist diesen regional sehr unterschiedlichen Veränderungen aufgrund seiner Strukturfehler nicht gewachsen. Diesen Herausforderungen wollte sich die Bundesregierung mit ihrem jetzt beschlossenen Versorgungsstrukturgesetz stellen und damit dem Ärztemangel in ländlichen Regionen entgegenwirken. Schade nur, dass ein Großteil der hiermit beschlossenen Maßnahmen mangels eines ganzheitlichen Ansatzes und der dringend notwendigen Beseitigung der Strukturschwächen auf kosmetische Reformen beschränkt bleibt. Ein Comeback der Landarztromantik ist von diesem Gesetz jedenfalls nicht zu erwarten, allenfalls das Risiko steigender Kosten für Versicherte und Patienten ist mit diesem Gesetz beschlossene Sache.
Nicht alle Berufsgruppen des Gesundheitssystems werden im Zuge der demografischen Entwicklungen gleichermaßen von einem Mangel betroffen sein. So wird der Bedarf an Frauen- und Kinderärzten angesichts anhaltend niedriger Geburtenjahrgänge in einigen Regionen schrumpfen. Das wird zugleich dazu führen, dass Fachärzte schwer zu erreichen sind und weite Wege in Kauf genommen werden müssen. Auch die Altersstruktur der Ärzteschaft führt zu einem steigenden Bedarf an Hausärzten und Allgemeinmedizinern. Bis zum Jahr 2020 werden etwa 1600 Thüringer Ärzte ihre Praxis altersbedingt aufgeben. Dabei ist der Ärztemangel ländlicher Regionen kein ostdeutsches Phänomen. Eine Vielzahl deutscher Flächenländer sieht ähnlich dramatischen Veränderungen entgegen, darunter Bayern oder Niedersachsen. Deutschlandweit werden in den kommenden Jahren 15.000 Hausärzte benötigt, um den aktuellen Versorgungszustand zu sichern. Schon heute erfahren nicht nur ländliche Regionen, sondern gleichzeitig soziale Brennpunkte in den Städten Engpässe in der medizinischen Versorgung.
Demgegenüber stehen immer weniger Jungmediziner zur Verfügung, um diese Lücken zu schließen. Die Stärkung der Allgemeinmedizin im Studium und die gezielte Ausbildung für strukturschwache Regionen könnten helfen, diesem Mangel entgegenzuwirken. Besonders dramatisch wird sich der Personalmangel jedoch in der Pflege auswirken. Die Entscheidung, unterschiedliche Mindestlöhne in Ost und West einzuführen, dürfte dieses Problem noch verschärfen und ist daher mit Blick auf steigende Pflegefälle kontraproduktiv.
Chance für flexible Versorgung vorerst vertan
Steigende Warte- und Anfahrtszeiten und ein Mangel an gesundheitlichen Versorgungsmöglichkeiten treffen gerade ländliche Regionen und deren Kommunen empfindlich. Denn die Gewährleistung einer ausreichenden und sinnvoll vernetzten Daseinsversorge ist Pflichtaufgabe und Standortvorteil zugleich. Wer wie CDU und FDP allein darauf setzt, junge Ärztinnen und Ärzte mit finanziellen Vorteilen zu ködern, wird den bereits heute sichtbaren Mangel bei gleichzeitigem Überfluss nicht lösen. Die alte Rechnung: "Gut für Leistungserbringer gleich gut für die Patienten" geht nicht auf. Vertan ist die Chance, neuartige und flexible Versorgungsmodelle zu unterstützen und damit Kommunen die Möglichkeit zu bieten, durch die Bereitstellung von integrierten Versorgungszentren, Praxisräumen oder mobilen Teams auf veränderte Versorgungsbedürfnisse zu reagieren. Hier stoßen die Lebenssituationen und Anforderungen von Patienten mit denen einer neuen flexiblen Ärzteschaft zusammen.
Fehlanzeige ist auch bei der dringend benötigten Reform der für regionale Bedürfnisse blinden und auf Ärzte zentrierten Bedarfsplanung sowie der Planung des Krankenhaussektors. Die Diskussionen und Prognosen der zu erwartenden Unter- und Überversorgung im Gesundheitssystem werden uns daher in den nächsten Jahren weiter begleiten. Ob urbane Impulsregion oder ländliches Idyll: Der Bedarf an Medizinern und Beschäftigten in Gesundheitsberufen wird neben den demografischen Prozessen entscheidend davon abhängen, ob wir zu einem Perspektivwechsel bereit sind, der sich von der Fokussierung einer Berufsgruppe hin zu einem integrativen Versorgungssystem aller am Gesundheitssystem Beteiligten orientiert. Die tiefgreifenden Veränderungen unserer Gesellschaftsstruktur sind weder eine Einbahnstraße, noch führen diese zwangsläufig in eine Sackgasse. Der demografische Wandel findet statt und erfordert genaues Hinsehen, dem ein beherztes Gestalten folgen muss.
TLZ-Gastautorin Katrin Göring-Eckardt ist Thüringer Bundestagsabgeordnete der Grünen und zugleich Bundestagsvizepräsidentin.