Geht es nach der schieren Zahl von Stationen, Betten und Fachärzten, steht Thüringen in der Palliativmedizin glänzend da. Doch das ist nicht das ganze Bild.
Erfurt. Genau 101 extra ausgebildete Mediziner praktizieren, in den zwölf Palliativstationen an Krankenhäusern gibt es 124 Betten. Macht rund 168 Prozent der geforderten Quote, die 50 Betten auf eine Million Einwohner vorsieht.
Alles bestens also? Wie immer, trübt sich die Bilanz, je tiefer der Blick dringt und je mehr Beteiligte und Betroffene ins Gespräch kommen.
So geschehen gestern Abend im Augustinerkloster von Erfurt, in das die FDP-Landtagsfraktion zur Podiumsdiskussion eingeladen hatte. Palliativmedizin ist dabei kein Thema, das zum lockeren Smalltalk taugt. Es geht um die Behandlung von Menschen mit einer nicht heilbaren, weit fortschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung. Patienten, deren Weg absehbar zu Ende geht. Die schwierige Einsicht von Kranken, Familie, Freunden und Arzt, das nicht mehr das Weiter- sondern das Zu-Ende-Leben in Würde und Schmerzlinderung im Fokus steht. Manchmal über einige Wochen, zuweilen bis über mehrere Jahre. Nicht immer mit der Palliativstation oder dem Hospiz als letztem Ort, sondern mit dem Auf- und Abschwellen der Krankheit in über 90 Prozent der Fälle Krebs auch zu Hause, wechselnd zwischen stationärer Aufnahme und ambulanter Pflege und Behandlung.
Geht es gut, bleiben Erinnerungen wie die von Werner Groll, ehemaliger Bürgermeister von Kamsdorf bei Saalfeld, dessen Mutter auf dem letzten Abschnitt fürsorglich und kompetent begleitet wurde, organisiert vom Palliativnetzwerk Südthüringen, dessen Chef Dr. Knut Kolitsch aus Katzhütte als Praktiker im Podium sitzt. "Ein Anruf hat gereicht, und das System kam ins Laufen", berichtet Groll. Anders beim Gothaer Jürgen Fröhlich, dessen Schwie-germutter zuletzt in einem Pflegeheim Aufnahme fand, das mit der Krebskranken wohl überfordert war. "Ich schäme mich das zu sagen, aber ich bin die letzten Tage nicht mehr hingegangen, weil es so schlimm war, was dort lief", erinnert er sich.
Trotz der glänzenden Zahlen und der auch gestern referierten interdisziplinären Zusammenarbeit, und obwohl auch in Thüringen das 2007 erlassene Gesetz zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung gilt, liegt im Freistaat noch einiges im Argen. Gerade die ambulante Versorgung sieht "ganz anders aus", so Kolitsch. Erst 2009 und 2010 seien die entsprechenden Verträge zwischen den regionalen Netzwerken und den Krankenkassen geschlossen worden; einige der frühen Aktivisten im palliativen Bereich seien regelrecht "am langen Arm der Kassen verhungert". Knackpunkt ist dabei etlicher Ärzte im Publikum die Vergütung. Sie liege weit unter dem Bundesschnitt und etwa bei der Hälfte, was etwa in Hessen ausgehandelt wurde. "Wenn ich bei uns am Rennsteig im Winter eine Stunde zum Patienten fahre und nach der Behandlung wieder eine Stunde zurück, bekomme ich 65 Euro", schildert Kolitsch, "das reicht für Sprit und ein paar gute Worte, sonst zu gar nichts." Nicht von ungefähr, so Thorsten Ernst vom Thüringer Hospiz- und Palliativverband, hätte in Sachsen, wo ähnliche Tarife gelten, das erste "Palliativ-Care-Team" bereits wieder aufgegeben. Anderswo in der Medizin gebe es bei solchem Neuland Anschubfinanzierungen, so eine Ärztin im Publikum; sie hingegen habe noch einen Kredit aufnehmen müssen und fragt unter Beifall im Saal: "Warum eigentlich soll das Sterben im Osten immer noch billiger sein als im Westen?"
Dr. Winfried Meißner, Chef der Palliativstation am Jenaer Uniklinikum, hält den Zustand für geradezu absurd. Seit 2007 das ambulante Team in der Saalestadt die Arbeit aufnahm, würden rund 70 Prozent statt zuvor 30 Prozent der unheilbar Kranken in heimischer Umgebung ihre letzten Schritte gehen. Bei mindestens 400 Euro Grundkosten je sonst fälligem stationären Belegtag hätten die Kassen seither enorme Summen gespart. "Das muss endlich mal bei denen ankommen, die diese Arbeit machen", findet Meißner, der betont, dass in der palliativen Ambulanz kein Geld zu verdienen sei: "Aber wenigstens kostendeckend müssten die Sätze endlich sein." Sonst, so der Katzhütter Kolitsch, werden wohl weiterhin die Hälfte der regionalen Netzwerke fehlen und Thüringen in der SAPV-Abdeckung ein Flickenteppich bleiben. Und die Fachkräfte laufen davon. Inzwischen sei ein Stand erreicht, bilanziert Kolitsch drastisch, dass "so viele gar nicht mehr abwandern können, wie wir noch brauchen werden weil sie schon weg sind." Guido Dressel, Leiter der Landesvertretung der Techniker-Krankenkasse, bleibt an diesem Abend fast wortkarg. Er macht aber deutlich, dass die Kassen ein Problem damit haben, die ambulante Palliativmedizin und -pflege besser zu finanzieren, solange Thüringen im stationären Bereich klar über seine Verhältnisse lebt und bei Hospizeinrichtungen und -diensten noch weiter zulegt. "Palliativstationen und Hospize sind Dinge, mit denen sich Politik gern schmückt", so Dressel. Und vor deren Rückbau auf den wirklichen Bedarf sie zurückschreckt, wie der jüngste Thüringer Krankenhausplan zeige.
Jens Voigt / 28.06.11 / OTZ